Werke von Peter Janssen dem Älteren (1844 - 1908)
Bildbeschreibung zu den Wandgemälden im Festsaal des Erfurter Rathauses
Das "tolle" Jahr zu Erfurt, 1509/10, 312 x 448 cm
Quelle
: Dr. Dietrich Bieber, Peter Janssen als Historienmaler (Teil 2)
Rudolf Habelt Verlag GmbH - Bonn 1979
 

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Das einst blühende Wirtschaftsleben der Stadt hatte am Ende des 15. Jahrhunderts seinen Höhepunkt überschritten. Die Landesfürsten erweiterten ihre Macht auf Kosten des Reiches immer mehr. Diese Verhältnisse führten zu tiefgreifenden Umwälzungen in der ökonomischen Lage und zu einschneidenden Änderungen im innerdeutschen Handel. Im Verlauf dieser Entwicklung versuchte auch Kurmainz, seine alte, längst verlorene Stellung in Erfurt wieder zu festigen. Politische Verwicklungen mit Kursachsen und Kurmainz traten ein, in denen die Stadt unterlag. Erfurt mußte die Oberhoheit des Kurfürsten von Mainz erstmalig vertraglich anerkennen und an die beiden Sieger eine Entschädigung von 200 000 Gulden zahlen. Diese Last und andere finanzielle Verpflichtungen beliefen sich schließlich auf 550 000 Gulden und führten 1509 zur Zahlungsunfähigkeit der Stadt. 

Die dadurch drohenden steuerlichen Belastungen und die Verpfändung des wertvollen Reichslehens Kapellendorf lösten einen Aufstand großer Teile der Gemeinde gegen den selbstherrlichen Rat der Stadt aus. Vorzugsweise wendete sich der Zorn des Volkes gegen den Obervierherrn Heinrich Kellner, der als das Haupt und die Seele der Rathspartei galt,und dem man vorzugsweise die Verpfändung von Kapellendorf zur Last legte. Als demselben im versammelten Rathe von den Deputirten der Bürgerschaft mit Bitterkeit vorgeworfen wurde: er habe ohne Wissen und Willen der Bürgerschaft Kapellendorf veräussert, stand er auf, schlug an seine Brust und rief: Wer ist die Gemeinde? Hier steht die Gemeinde! Ein solches Wort, erwiderten die Abgeordneten, geziemt einer Gemeinde nicht zu leiden... Kellner wurde ergriffen und nachdem er lange im Gefängnisse geschmachtet, ... am 28. Januar 1510 hingerichtet. 

Erst 1516 gelang es dem Obersten Ratsmeister Adolarius Hüttner und, dem auf dem zweiten Türbild dargestellten Henning Goede "den Frieden in der Gemeinde wieder herzustellen." 

Janssen stellt in seinem Bild den dramatischen Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Rat und aufgebrachten Bürgern dar. Die Anführer und ein Teil der Volksmenge sind in den Sitzungssaal eingedrungen: die zersplitterten Teile des Treppengeländers zeugen von einem gewalttätigen Einbruch (unten rechts). Durch einen Bürgervertreter zur Rechenschaft gefordert, scheint Kellner gerade das verhängnisvolle Wort "Hier steht die Gemeinde" gesprochen zu haben, denn der jüngere Bürgervertreter, der mit der Rechten auf den Obervierherrn weist, spricht mit dieser Geste seine Gefolgsleute an, als wollte er sagen: Hört euch das an! Das Gemälde überspitzt demnach das Geschehen zu einem Zugleich der Aktion, dem Einbruch der Aufrührer mit der Forderung nach Rechenschaft, und der Reaktion, die sich in der berühmten Äußerung Kellners und der Geste des auf ihn weisenden Handwerkers zeigt. 

Sechs Aufrührer - man vergleiche die Bildecke unten rechts - drohen mit wütendem Gesichtsausdruck und entsprechenden Gebärden der Ratsversammlung, wobei einer der Eindringlinge ein ausgerissenes Stuhlbein gegen die Ratsherren schwingt. Rechts über dieser Gruppe sind weitere Aufrührer zu sehen, darunter noch ein Knüppelschwingender im Hintergrund. Die Anführer der aufgebrachten Menge stehen schon, zu viert einen Block bildend, innerhalb der Tische, an denen die Ratsherren sitzen. Der mittlere Bürgervertreter, ein schon älterer Handwerker mit Bauchansatz und weißer Schürze, weist mit dem rechten Zeigefinger in ein Buch, das er auf der linken Hand und zur Ratsversammlung hin so aufgeschlagen vor sich hält, daß diese selbst die entscheidende Stelle lesen soll: wahrscheinlich die Summe, deren Veruntreuung dem Rat vorgeworfen wird. Mit süffisant hochgezogenem Mund bekräftigt der Handwerker auch mimisch seine Forderung.

Hinter ihm wird rechts ein Kapuzenträger sichtbar, vielleicht ein von der Menge fanatisierter Mönch, der mit geöffnetem Mund erregt auf Kel1ner starrt. Vor dem weißbeschürzten Handwerker steht ein anderer Bürgervertreter. Mit ruhig auf dem Rücken zusammengelegten Händen schaut er erwartungsvoll Kellner hinter seinem Tischpult an. Doch der jüngere Bürgervertreter mit dem erhobenen rechten Arm weist schon auf den Obervierherrn als den Hauptschuldigen. Noch scheint dieser kaum geendigt zu haben, denn sein rechter Zeigefinger weist auf die Brust, das "Hier steht die Gemeinde" nachdrücklich unterstreichend.

Leicht vorgebeugt und so wie seine Gegner die sitzenden Ratsherren überragend, ist Kellner auf der den Aufrührern gegenüberliegenden Seite der zweite Blickpunkt des Bildes. Kellners leicht in den Nacken geworfener Kopf mit dem kräftigen Schnauzbart und die noch eben wie im Sprechen geöffneten Lippen charakterisieren ihn einprägsam als Haupt der führenden Ratspartei. Vor ihm und seitlich zu beiden Seiten hinter ihm sitzen an den Tischen die in verschiedenen psychischen Reaktionen gezeigten Ratsherren. Sie lassen sich im wesentlichen in zwei Gruppen gliedern: die Gruppe im Vordergrund des Bildes, die in ihrem Verhalten auf die treppenstürmenden Aufrührer bezogen ist, und die Gruppe im Mittelgrund, die gespannt der Auseinandersetzung zwischen Kellner und den Bürgersprechern folgt.

Mit dieser differenzierenden Behandlung in der Menschendarstellung folgt Janssen der durch den gewählten Handlungsablauf gegebenen inneren Logik. Denn die vorne zu den Aufrührern schauenden Ratsherren fühlen sich unmittelbar bedroht und neigen sich dementsprechend in die entgegengesetzte Richtung. Die links vor Kellner eng zusammensitzende Dreiergruppe vermittelt gleichsam zum Mittelgrund. Während die zwei dem Betrachter näher Sitzenden zur Bildmitte sehen, schaut der Ratsherr mit dem an Luther erinnernden Gesicht fragend mehr in Richtung der vorne rechts hereinstürmenden Aufrührer. Die Ratsherren des Mittelgrundes fühlen sich nicht gefährdet. Infolgedessen blicken sie eher nachdenklich und teils wohlwollend-lächelnd auf die ihre Rechte vertretenden aufrührerischen Bürger. Unter den dergestellten Ratsherren finden sich Gesichter - der junge Ratsherr mit den langen Locken rechts von Kellner -, die an Dürer oder - der Ratsherr, der den Kopf in die Hand stützt -, die an Luther oder allgemein an Porträts etwa Cranachs erinnern, wie der beschattete Kopf im Hintergrund vor dem mittleren Wandpfeiler. In den Kostümen sind die Ratsherren mit den aufwendigen Schauben, bei denen Pelzbesatz, geschlitzte Ärmel und uertvolle Überwürfe modische Akzente setzen, den betont einfach meist mit Wams und Schurz bekleideten Handwerkern gegenübergestellt. Die Szene spielt in einem durch eine einfach gegliederte Wand nach hinten abgeschlossenen Raum, der sich im äußeren Bildviertel rechts zu einer Art Treppenvorraum in die Tiefe öffnet. Durch im übrigen weitgehenden Verzicht auf Tiefenwirkung im Räumlichen und das Zusammengedrängtsein der Figuren im Vorder- und Mittelgrund gewinnt die Szene an Unmittelbarkeit und Dramatik.

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